Preisträger 2016

THE QUEENG OF AMA*R
Inga Gerner Nielsen & Johannes Maria Schmit,
Leipzig / Kopenhagen

Sonnenuntergangszeremoniell
Im Dezember 2015 war die QUEENG OF AMA*R der Stargast im Leipziger Osten, kochte unweit der Eisenbahnstraße Stein zu Gold, Schmutz zu Glitter und Exkrement zu Real Estate. Berichterstattungen über ihre Kompetenz in Sachen Armut füllten die Titelseiten der hiesigen Presse, in interaktiven Performances materialisierte sich unermüdlich der königliche, herm-aphroditische Körper.

Im Leipziger Westen lädt die Hoheit nun zum Sonnenauf- und -untergang seiner selbst. Levée und Couchée ist ein Zeremoniell in Anwesenheit des gesamten Hofes, getreu dem Wahlspruch zeitgenössischer Herrschaft und alchemistischer Vergrößerungskunst:
What you lose in quality, you win in quantity.

Bei der Performance im LOFFT handelt es sich um eine Übersetzung der ursprünglichen 1zu1-Situation, der von der Jury nominierten Audienzen des QUEENG im Eisenbahnstraßenviertel Leipzigs.

Sonnenaufgangszeremoniell
(öffentliche Probe / Vorbereitung auf das Sonnenuntergangszeremoniell) – Eintritt frei

Im Sonnenaufgangszeremoniell laden die Hofdamen des QUEENGS den Leipziger Hofstaat deshalb ein, jenes Procedere einzuüben, das am Abend zu Ehren der Hoheit aufgeführt wird. Die QUEENG wird bei dieser öffentlichen Probe selbst nicht anwesend sein, gewährt allerdings freien Eintritt am Abend, allerlei partizipative Privilegien, Teile seines Körpers und Dosenchampagner zum Sonnenuntergangszeremoniell.

Inga Gerner Nielsen (DK) arbeitet seit 2007 mit dem Genre der intervenierenden Performance Installation. Zusammen mit Johannes Maria Schmit (DE), der als Regisseur am Centraltheater Leipzig engagiert war, entwickelte sie QUEENG OF AMA*R als ortsspezifische Arbeit für das HAL Atelierhaus im Leipziger Osten.

Konzept, Installation und Performance Inga Gerner Nielsen & Johannes Maria Schmit Bühne fürs LOFFT Markus Wagner Produktion von HAL Atelierhaus HAL / help*Residenz / Helden Wider Willen e. V. unterstützt durch die Kulturstiftung des Bundes, Fonds Neue Länder sowie Brother‘s Café und Bäckerei


Die Jury über den Preisträger des Leipziger Bewegungskunstpreises 2016

Dass das Theater immer ärmer wird, ist ein alter Hut - und muss in dieser Runde nicht sonderlich erwähnt werden. Der Theateroptimist möchte hinzufügen, dass das Verarmen des politischen und gesellschaftlichen Diskurses eine direkte Folge davon ist. Aber soweit wollen wir, Gott bewahre, heute Abend nicht ausgreifen. Wir lassen auch beiseite, dass Armut gerade heute eine Schande und eine schallende Ohrfeige für unsere ach so hoch entwickelte Zivilisation ist. Denn Fakt ist, wenn man arm ist, kann man lamentieren, protestieren und sich nackt an Dinge ketten: Meist verändert sich nicht viel – sagen wir mal provokativ: NIX! Bleibt die Frage, was tut man, wenn man arm ist? Diese alte und immer wieder neue Frage führt uns direkt zu den Preisträgern des diesjährigen Wettbewerbs.

Angesichts der Bedeutung und Komplexität dieser Frage laden uns Inga Gerner Nielsen und Johannes Maria Schmit erst mal auf eine Tasse Tee ein. Und zwar in einem Café auf der Eisenbahnstraße. Wie Sie wissen ein Ort, der weit über Leipzigs Stadtgrenzen hinaus berüchtigt ist. Hier sei nur eins zu diesem Quartier gesagt: Es ist so wunderbar disparat, dass man je nach Gusto sowohl alles Gelingende wie auch alles Scheitern unserer Gesellschaft an ihm alles exemplifizieren kann. Konservativ gedacht, gilt es als arm - und eben deshalb hat sich der/die Queeng of Ama*r auch entschlossen diesem Stadtteil Leipzigs einen Besuch abzustatten. Denn die Eintrittskarte, die der designierte Zuschauer per Mail bekommen hat, ist tatsächlich die Einladung zu einer Audienz bei ihrer/seiner königlichen Hoheit, einem Hermaphroditen: Queeng ist eine Überblendung aus Queen und King. Diese/dieser herrscht über eine Insel aus Unrat vor der dänischen Stadt Kopenhagen – wie später zu erfahren ist. Pro Vorstellung bzw. Audienz ist genau ein Zuschauer geladen und so sitzt man im Café vor besagter Tasse Tee, blickt auf das Treiben auf der Eisenbahnstraße und harrt – vielleicht ein bisschen unbehaglich – der Dinge, die da kommen mögen.

Dann erscheinen vor dem Schaufenster des Cafés zwei freundliche, junge Menschen mit einem bunten Regenschirm. Sie sind die Maintainer der/des Queeng – also in etwa ihre/seine Unterstützer, Bewahrer, Verwalter, Pfleger oder Erhalter. Unter dem Schirm wird man über die Straße und in eine abgeschranzte Wohnung im HAL Atelierhaus geleitet. Dort beginnt die Vorbereitung auf die Audienz. Denn wie von den Performern völlig richtig eingeschätzt, weiß heutzutage kein Mensch mehr, wie man sich da verhält. Der Geladene wird also über die Aktivitäten der/des Queeng unterrichtet: ihre/seine freundschaftlichen Kontakte zu anderen europäischen Königshäusern sowie ihrer/seiner großen Vorliebe für Glanz und Glamour und die Lust zu reisen. Letztere speise sich vor allem aus der Freude, die besuchten Orten ein wenig in den heiteren Schein der/des Queeng zu rücken. Wesentlich für den Gast sind allerdings die Informationen über das zeremonielle Protokoll des 17. Jahrhunderts. Außer über die diversen Regeln bei Hofe wird er beispielsweise darüber unterrichtet, welch großer Gunstbeweis es ist, an den verschiedenen Verrichtungen des Herrschers Anteil zu nehmen und ihm nahe zu sein – anders als heute war die Beseitigung der täglich anfallenden Fäkalien ein kaum zu überbietendes Privileg. Irgendwann in diesen Ausführungen beschleicht den Belehrten, die Befürchtung, ob er sich wirklich jeden Hinweis und jede Vorschrift wird merken können. Mit dieser Ungewissheit und der Aussicht nun bald Teil des zeremoniellen Protokolls zu sein, wird der Präparierte dann zurückgelassen.

Dass die tatsächliche Audienz dann den zuvor aufgebauten Erwartungshorizont völlig umkehrt, ist eine der Stärken der Performance. Kein dritter Darsteller wartet auf den Besucher, vielmehr besteht die Zeremonie darin, dass der Gast gemeinsam mit den Maintainern die/den Queeng erst zur Erscheinung bringt. Die im Briefing beschriebene Machtrepräsentation des Absolutismus erfährt ihre völlige Aufhebung in der Audienz des/der Queeng. Denn diese gelingt nur, wenn der Besucher selbst zum Komplizen und Erhalter des Herrscherkörpers wird. Genauso fragwürdig wie die Erscheinung des Herrscherkörpers offenbaren sich die Gegenstände, die die/der Queeng dem Gast vorführt, um sich an verschiedene Erlebnisse und Orte ihres/seines Besuchs in Leipzig zu erinnern. Aus den Ecken des Audienzraumes hervorgeholt, bleibt es dem Willen zur Konspiration überlassen, in ihnen wertvolle Relikte oder einfach nur Müll zu erkennen.

Zwischen Ernsthaftigkeit und Lächerlichkeit – so wird das königliche Zwitterwesen durch beide Maintainer, die sich in eine Badewanne drängen, dargestellt – schält sich langsam der Kern der Audienz heraus: Was bedeutet Armut? Welche Handlungsmöglichkeiten ergeben sich aus ihr? Welche Dinge besitzen wert? Gibt es noch Momente in unserem Leben, die nicht gemessen, gewogen und in die Verwertungsmaschine gesteckt werden können?

Dass sich diese Gedanken en passant zwischen den Zeilen, zwischen Ernst und offensichtlicher Unzulänglichkeit, ohne moralischen oder klassenkämpferischen Zeigefinger und ohne auf der Hand liegende Antwort entwickeln, ist die Meisterschaft der/des Queeng of Ama*r. Dass das Konkrete, Eindeutige, die einfache Lösung nicht das Ziel der Operation ist, kumuliert im letzten Teil der Audienz: dem gemeinsamen Traum mit der/dem Queeng, der faktisch nur noch in der Imagination des Besuchers stattfindet.

Es ist die große Qualität der Performance „The Queeng of Ama*r“, dass sie den Begriff der Armut reflektiert, ohne in Sozialromantik zu verfallen. Leise, listig und hintersinnig verführt die Audienz zu dem „revolutionären“ Gedanken, dass Armut der wahre Reichtum ist: Weil der materielle Reichtum unsere Imagination verarmt, uns von unserem Gegenüber entfernt, Anerkennung und Wertschätzung nur qua Währung verteilen kann und damit einen Großteil der Menschheit ins Abseits stellt. Armut dagegen, das demonstriert die/der Queeng, erfordert Erfindungsreichtum, Solidarität, einen Sinn – oder viele – für Glanz, will sagen, für das, was sich mit Geld nicht kaufen lässt.

Dabei – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – geht es nicht um ein Plädoyer für die Armut oder das Arm-sein als zu favorisierendes Lebensmodell. Vielmehr ist die Leistung von Inga Gerner Nielsen und Johannes Maria Schmit, dass sie angesichts der schier unerträglichen Gewissheit, dass noch lange Zeit der größte Teil der Menschheit arm sein wird, eine Reflexion auf Armut versuchen, die sich aus Passivität und Ohnmacht herauszuwinden sucht. Dass sie dies mit großem Ernst, augenzwinkernder Leichtigkeit und einer ausgeklügelten aber unaufdringlichen Dramaturgie tun, macht sie zu verdienten Preisträgern des Bewegungskunstpreises 2016. Herzlichen Glückwunsch Inga Gerner Nielsen und Johannes Maria Schmit!