Preisträger und Nominierte 2014

CORPS ÉTRANGERS

Die Inszenierung

Was ist Mensch, Tier, Pflanze, Wesen, Objekt? Wo endet das Spiel, wo beginnt die Gefahr? Ein deutsch-französisches Ensemble aus Tänzern, Akrobaten und Seilen bringt unser neuzeitliches Weltbild zum Schwingen. In der extrem physischen und bildstarken Produktion verflechten sich vielschichtige Soundscapes mit surrealen Tierstudien, fantastischen Ritualen und schwindelerregenden Trancetänzen. Ein poetisch-bizarrer Kosmos jenseits eindeutiger Zuschreibungen.

Eine Produktion von: MOUVOIR in Kooperation mit: Freihandelszone Ensemblenetzwerk Köln, In Koproduktion mit dem LOFFT/ Leipzig, tanzhaus nrw Düsseldorf, Theater im Pumpenhaus Münster und Maqamat Dance House Beirut; unterstützt durch: CENTQUATRE/104 Paris; O espaco do tempo, Portugal gefördert von: Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW, Kulturamt der Stadt Köln, Kunststiftung NRW, Stadt Leipzig und Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.

Konzept/Choreographie: Stephanie Thiersch | Tanz/Aktobatik: Fabien Almakiewicz, Mathieu Antajan, Tim Behren, Florian Patschovsky, Valenti Rocamora i Torà | Sound/Komposition: Emmanuelle Gibello | Choreografische Assistenz: Viviana Escalé, Alexandra Naudet | Licht Design/Technische Leitung: Niko Moddenborg | Bühnendesign: Fabien Almakiewicz | Kostümdesign: Sabine Schneider | Dramaturgie: Anna Volkland | Fotografie: Martin Rottenkolber | Management: Béla Bisom | Produktionsleitung: Karolin Henze

Jurybegründung
CORPS ÉTRANGERS tanzt den Mythos vom Zivilisationsprozess zwischen Groteske und Drama. Nur, dass die Tänzer hier vor allem Akrobaten, Artisten sind und allein schon deren dann doch ganz anders autonome, auch ganz anders sinnlich Art des Bewegens, dieser Inszenierung eine Aura gibt, die sie immun macht gegen das, was Tanztheater inzwischen zunehmend zeigt: dass eben auch Körpersprache oft kaum mehr als Phrasen produziert. Nichts davon in „Corps Étrangers“. Und das eben auch, weil im Kontext der Maßgaben modernen Tanztheaters Thierschs Darsteller Fremdkörper sind. Fremdkörper, mit faszinierender Körperbeherr-schung, die ohne Hast, selbstbewusst, in einem oft geradezu zeitlupenhaften Habitus, für die wuchtige Archaik ebenso souverän sorgen, wie für akrobatische Höhenflüge. Und dabei immer wieder in einem Zustand der Verwandlung, der Ver- und Entpuppung aufscheinen. Und den Menschen generell als einen Fremdkörper definieren, wenn, wie es hier geschieht, seine Existenz an deren Schnittstellen – dort, wo sich Verwobenheiten zwischen Mensch, Tier, Pflanze und Ding und die fließenden Grenzen dazwischen zeigen oder ahnen lassen – erkundet wird. Der Mensch, gefangen in einer biologischen Systematik, die er selbst definiert hat, offenbart sich als der Freak unter den Gattungen, zwischen Hybris und Verwerfung schwingend, wie der Trockennasenaffe an der Liane. Thiersch baut dafür hintergründige Szenen, zeigt den Evolutionszirkus als Nouvelle-Cirque-Maskenball zwischen Totem und Tabu, Travestie und Animismus. Wir sind nie modern gewesen. … Die Produktion von Stephanie Thiersch und ihrem französisch-deutschen Künstlerkollektiv gibt somit auch ein Musterbeispiel. Nicht nur für die Existenzberechtigung der freien Szene, die so selbst-verständlich, wie sie gern postuliert wird, nicht ist. Sondern vor allem für ein künstlerisches Potential, das Welt und Dasein in einer Art zu reflektieren vermag, die von einer – um dieses Wort noch mal zu benutzen – geistigen und ästhetischen Autonomie ist, welcher unser Gegenwartskulturbetrieb zunehmend vermissen lässt.“

Die Preisträgerin
Stephanie Thiersch

 

Weitere Nominierte für den Leipziger Bewegungskunstpreis 2014

CANTOS: AND AMERICA LIKES ME
von Melanie Albrecht, Michael Wehren, Helene Wölfl
LOFFT / FRIENDLY FIRE

Das Stück setzt sich mit und gegen den amerikanischen Schriftsteller Ezra Pound ihre Navigation durch das “Jahrhundert der Extreme” und die Zukunft der Gegenwart fort. Immer mit dabei als Wegbegleiter: Joseph Beuys, Experte für Coyoten, Hasen, Traumata, Luftwaffenfunk, Fakes und “Das Ende des 20. Jahrhunderts”. Mit ihm steuern friendly fire durch die Trümmer und laden kurz bevor 2014 das Gespenst der “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts wiederkehrt, ein zur Geisterstunde mit Gästen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Was war eigentlich das 20. Jahrhundert?

Zum Festival wird nicht das gesamte Stück gezeigt, sondern eine performance / lecture – Fassung basierend auf der Aufführung CANTOS: AND AMERICA LIKES ME sowie weiteren Recherchematerialien

TEAM CANTOS: Thomas Achtner, Melanie Albrecht, David Begrich, Robert Carlo Ceder, Josephin Eckhardt, René Heinrich, Eva Hesse, Susann Jehnichen, Heiko Koch, Rebecca Löffler, Philipp Neumann, Hannah Sieben, Marija Skara, Marcus Steinweg, Elena Strempek, Alba Talamo, Florian Tepelmann, Ole Toense, Michael Wehren, Helena Wölfl

Eine Produktion von friendly fire in Koproduktion mit LOFFT, Leipzig. Gefördert durch die Stadt Leipzig, das Studentenwerk Leipzig und die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.
http://friendlyfire-friendlyfire.blogspot.de

Jurybegründung
Als Fragment-Spaziergang macht »Cantos« Ezra Pounds gleichnamigen Versepos an einem fordernd überbordenden Abend begeh- und erlebbar. Friendly Fire wühlt tief im Text des Mammutwerks und schafft zugleich auch leichte Momente Ihre performative Installation überzeugt als vielstimmiger, assoziativer Museumsraum, als lehr- wie abwechslungsreiche Entdeckungstour durchs Zeitalter der Extreme.

 

ROH – disputatio de femina bisulca
von Christian Hanisch
DAS ÜZ/ De lekkere Compagnie

ROH ist die Lebensbeichte von V, einer Frau in ihrer ‘Midlife Horniness’: Liebevoll, selbstlos, wild und getrieben zugleich. Zwischen Hexe und Elfe, zwischen Geisterbahn und Blümchensex. Die Bühne ist das Museum von V, angefüllt mit Exponaten, Schautafeln und Geschichten zur Erforschung ihrer Biografie. V ist Museumsführerin und Spielerin ihres eigenen Lebens. V lädt uns ein auf eine Forschungsreise in ein rohes Land: Ich.

Regie/Konzeption: Christian Hanisch | Dramaturgie/Konzeption: Karsten Kriesel | Schauspiel: Valerie Habicht-Geels | Assistenz: Peter Thetmann

Jurybegründung
Diese kleine Stückentwicklung von sinnlicher Intelligenz verhandelt die ganz großen Themen des Weibes. Valerie Habicht-Geels spielt ihre wütende und zugleich melancholische V-Figur mit nichts als den Mitteln des Kammertheaters und erhebt sich aus dem besessen kleinteilig vorgeführten Sammelsurium von Erinnerungsstücken als Star ihres eigenes Lebens, der um alle Verletzlichkeiten und Wechselfälle bestens Bescheid weiß und uns Mitmenschen in die Geheimnisse einweihen kann. Und Christian Hanisch inszenierte V’s feministisch-gefühlsecht-humorsprühendes Pamphlet kongenial.

 

VADE MECUM – geh’ mit mir
von Undine Werchau & Sophia Rändler
tanzZenit

In Kulten und Religionen wird die Schöpfung als Anbeginn der Welt gesehen. In Anlehnung daran wird auch die erschaffene Welt – das Leben, die Erde, das Universum – als die Schöpfung bezeichnet. Aber ist die Schöpfung schon abgeschlossen? Oder setzt sie sich als Creatio continua permanent fort? Die Tänzerinnen untersuchen, wie aus dem „Nichts“ plötzlich doch etwas entstehen kann, welchen ungeahnten Verlauf Ursache und Wirkung in Bezug auf die Evolution nehmen und loten allzu Menschliches aus, gehen neue Wege, scheitern, kollidieren und stehen wieder auf.

Regie/ Tanz: Undine Werchau, Sophia Rändler
Choreografie: Undine Werchau, Sophia Rändler, Johanna Kecke
Eine Produktion des tanzZenit e.V.

Jurybegründung
Schöpfungsmythen en miniature: Die drei Choreografinnen von tanzZenit scheuen nicht den Umgang mit etlichen dinglichen und lebenden Requisiten, dennoch ist es die – mal konkrete, mal assoziative – Bewegungssprache von Undine Werchau und Sophia Rändler, welche Räume und Beziehungen erschafft. Mit fokussiert naivem Entdeckereifer erforschen die beiden tanzend Ideen zur Entstehung der Welt und setzen die Divergenz ihrer Körper virtuos als Stilmittel ein. Wohltuende Verspieltheit und Witz wechseln mit spirituellen Pointen und herausfordernder Symbolik.


VOR DEN HUNDEN – Theater aus Europa

von Frank Heuel
Schaubühne Lindenfels

Schaubühne und fringe ensemble realisierten seit 2012 ein außergewöhnliches Theaterprojekt, das in der Uraufführung VOR DEN HUNDEN gipfelte – einem Festival in einem Stück. Einer Schlacht aus Sprache, Musik und Körperlichkeit. Wir folgen den Fährten, Geschichten und Figuren von neun europäischen Autoren entlang den Frontlinien zwischen Krieg und Nicht-Krieg, Mensch und Bestie, Gemeinschaft und Meute. Der Schauplatz ist Europa, die Zeit heute. Die Gegenwart des Krieges lässt sich nicht verhehlen.

VOR DEN HUNDEN wird in der gekürzten Festival-Edition von ca. 70 Minuten gezeigt.

Von: Magdalena Barile (I), Ivo Briedis (LV), Kristín Eiríksdóttir (IS), Jens-Martin Eriksen (DK), Goran Ferčec (HKR), Lothar Kittstein (D), Alexander Molchanov (RUS), Marie Nimier (F), Andreas Vonder (NL)
Mit: Maciek Brzoska, Philine Bührer, Ismail Deniz, David Fischer, Justine Hauer, David Jeker, Manuel Klein, Bettina Marugg, Andreas Meidinger, Laila Nielsen
Regie: Frank Heuel | Dramaturgie: René Reinhardt | Bühne, Kostüme: Annika Ley, Elisabeth Schiller-Witzmann | Musik: Gregor Schwellenbach

Jurybegründung
Ein Theaterfresko und fragmentarische Anthologie in epischer Länge. Neun europäische Gegenwartsautoren liefern Texte, die in einem Vier- Stunden- Spiel verfügt, gleich einem Echolot hinabtauchen in die Tiefen und vor allem auch Untiefen europäischer Geschichte und Gegenwart. Was im Bühnenlicht entsteht: Der Versuch einer Verortung jenseits der Verlautbarungen, eine Befragung und Selbstbefragung. Und politisches Theater im besten Sinne- weil es mehr ist, als nur politisch.