Overhead Project erhält den Leipziger Bewegungskunstpreis 2018 für das in Kooperation mit dem LOFFT – DAS THEATER entstandene Stück Surround.
Eine Inszenierung, die Faszination entfaltet – irgendwo im Grenzgebiet von Tanz, Akrobatik und performativer Installation – und sie entfaltet ihre Faszination mit Genuss, so die Jury. Vielen Dank für den Abend mit dem Pauschenpferd und Herzlichen Glückwunsch Overhead Project!
Foto (c) Thilo Neubacher, v.l.n.r.: Ronald Schubert (Vorsitzender Bewegungskunstpreis und Festival), Tim Behren (Overhead Project), Stefan Ebeling (Moderator), Mijin Kim, Silvia Ehnis Simon Bauer, Florian Patschovsky (Overhead Projact), Dr. Skadi Jennicke (Kulturbürgermeisterin der Stadt Leipzig).
Die Jury über den Preisträger des Leipziger Bewegungskunstpreises 2018
Wer beim Theaterbesuch ein Pauschenpferd von der Decke hängen sieht, wird dies mit ziemlicher Sicherheit als ungewöhnlich empfinden. Das kennt man nicht vom Theater, vor allem aber kennt man es nicht von dem Turngerät, das üblicherweise auf dem Boden zu stehen pflegt. Und mutmaßlich ist das Pauschenpferd ein Gegenstand, der im Alltag der meisten Theaterbesucher überhaupt keine Rolle spielt.
Das Pauschenpferd hängt also von der Decke. Die Besucher sind animiert, das darunter präparierte Kreisrund abzulaufen. Das Pauschenpferd setzt sich in Bewegung, schwingt um eine gedachte, sich immer wieder von Neuem verschiebende Achse. Über den Köpfen scheint es einmal hier beinahe den Körper eines Besuchers zu treffen, beim nächsten Mal dort fast an der Wand abzuprallen. Overhead Project haben da logischerweise irgendwie ihre Finger drin. Wohl auch deshalb erscheint es fragwürdig, wenn sie auf einen zugehen, einen auffordern, mitzukommen, und man dann von ihnen durch das Kreisrund des bespielten Raumes geführt wird. Mitten hindurch und unter diesem pendelnden schweren Ding lang, in schnellen Schritten. Hält das da oben? Kann das Ding nicht runterknallen? Wem kann man hier vertrauen?
Es fühlt sich wie ein großes Wagnis an, dass man das mit sich machen lässt. Schweißnasse Handflächen treffen nach der ersten Durchquerung auf die Erleichterung, dass man es geschafft hat, ja: dass man überlebt hat. Die Augen signalisieren den anderen, dass das klappt, womöglich sogar halb so schlimm ist. Manche werden schon zum x-ten Mal durch den Raum geführt oder machen sich auf eigene Faust auf den Weg. Andere drücken sich eher panischen Blicks mit dem Rücken an die Wand, um nicht geholt zu werden. (Sie werden nicht geholt.) Alles in allem zeigen schon die ersten Momente: Das hier ist kein Spaß.
Nachdem nun jeder und jede für sich versucht hat – mehr oder minder betreut –, zum Pferd eine Haltung zu entwickeln, weitet sich die Wahrnehmung. Das gewichtige Schwing-Her, Schwing-Zurück ist das eine. Die anderen Besucher sind das andere. In diesem Raum befindet sich eine Gruppe und zu jeder Gruppe gehört Dynamik. Zur Dynamik tragen jene bei, die ohne Aufforderung und ohne Betreuung durch den Raum rennen, um sich freiwillig dem Pauschenpferd auszusetzen. Vielleicht stecken sie mit den Machern unter einer Decke. Vielleicht stecken sie wie diese mit dem Pferd unter einer Decke.
Vor allem heißt Gruppendynamik, wie so oft im Theater und auch anderswo: Die Gruppe der Besucher tut im Großen und Ganzen wie ihr geheißen und formiert sich brav zur Herde.Wenn man tut, was die Mehrheit tut, kann man doch eigentlich gar nicht so falsch liegen. Oder? Das 20. Jahrhundert lässt grüßen. Heute Abend geht es ganz gewiss nicht darum, im Widerspruch zur Gruppe Rückgrat zu beweisen, schon gar nicht darum, als Gruppe Rückgrat zu beweisen. Rückgrat wogegen denn eigentlich? Die autokratischen Regierungen dieser Welt befinden sich nicht in diesem Raum und auch sonst gefühlt weit weg.
Längst schon hat sich das Ensemble aus den zwei Akrobaten Tim Behren und Florian Patschovsky und den zwei Tänzerinnen Mijin Kim und Susanne Schneider neu konfiguriert, vollführt einen Tanz, während die Herde wiederum vor der Frage steht, wie sie sich als solche verhält und wo sich die Einzelne, der Einzelne positioniert. Der weiterhin bestehende Kreis ist bei Weitem kein Zirkus. Tanz wie Akrobatik mit diesem Ding, diesem Pferd, das mal in enger Ellipse, mal in weiter Ellipse die Luft durchpflügt, mal beruhigt wirkt, mal sich aufzubäumen scheint, dienen bei Weitem nicht nur der Ausstellung von Körperkunst. Hier geht es auch um Schmerzgrenzen. Da wollen Besucher empört aufjaulen, als eine Tänzerin sie berührt, merken aber schnell zweierlei: dass erstens die Berührung gar nicht wehgetan hat, auch wenn sie unerwartet und unerwartet grob war. Und dass zweitens sie der zufällige Spielball in einem Szenario von Gruppe und Vereinzelung sind, in dem es eigentlich nur falsche Reaktionen geben kann.
Demokratie, die echte Demokratie wäre eine ganz andere Nummer. Da wäre Partizipation möglich, da wäre die Herde nicht zur Passivität verdammt. Und das ist es auch, was Einzelne merklich gegen die Herde aufbringt: Dieses passive Rumgestehe als Ansammlung von Leuten. Das »wir« gegen »die«. Die Macht des Ensembles gegen die Ohnmacht der Herde. Vielleicht zeigt sich in diesem Kreis und mit diesem Pferd, was mit der »Geometrie der Demokratie« gemeint war. Zuständigkeiten schälen sich heraus: Ist das jetzt diese Gewaltenteilung? Wer hat denn – hier, in diesem Kreis – überhaupt die Gewalt?
Mag sein, dass sich hier Allegorien auf die Demokratie verbergen, das Verhältnis von Individuum und Herde befragt wird. Besucher, Macher und Pferd spielen jedenfalls einige Aspekte davon durch. Die zwei Akrobaten und zwei Tänzerinnen von Overhead Project entwickeln in dieser außergewöhnlichen Raumsituation tänzerische Muster und Abläufe, bewegen sich um die Mitte, formen das Publikum und liefern es den unheimlichen Kräften aus. Alle Anwesenden versuchen, sich dem Pauschenpferd gegenüber zu positionieren, das als Pendel durch den Raum schwingt. Der Kopf weiß: Die Gesetze der Physik lassen sich nicht außer Kraft setzen. Der Bauch ahnt: Es gibt keine Sicherheit. Das fasziniert, macht Angst, erfordert Mut, eventuell Initiative und auch Allianzen. Und das sind Signale, die womöglich auf dem Heimweg oder auch danach noch zu verarbeiten sind.
Overhead Project führen mit Surround den wohlbekannten Herdentrieb der Theaterbesucher vor. Darum geht es heute nicht. Vielmehr ist es bemerkenswert und das Verdienst von Surround, diese soziale Situation so dermaßen auf die Spitze zu treiben. Die Idee von Herde und Kreis, die Gegenüberstellung von Drinnen und Draußen, die Orientierung an der Macht – das ist praktisch wie spielerisch hervorragend umgesetzt. Noch dazu ist der ganze Abend dramaturgisch schlau gebaut, greifen die einzelnen Elemente lückenlos ineinander, verweisen im Verlauf aufeinander, ist das Tempo nicht zu schnell, um den Anschluss zu verlieren, aber schnell genug, um Unsicherheit zu nähren. Die Inszenierung kann ihre Faszination entfalten – irgendwo im Grenzgebiet von Tanz, Akrobatik und performativer Installation – und sie entfaltet ihre Faszination mit Genuss.
Vielen Dank also für den Abend mit dem Pauschenpferd!